Debattenraum

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Rainer Mausfelds grafische Veranschaulichung der heutigen Verengung des Debattenraumes

Der Begriff des (Öffentlichen) Debattenraumes ist durch Rainer Mausfeld aufgeworfen worden und bezeichnet die scheinbare oder tatsächliche Möglichkeit einer Debatte über gesellschaftliche Probleme bzw. gesellschaftlich relevante Themen.

Die Dimensionen

Wie der Begriffsteil Raum andeutet, handelt es sich um ein Gebilde mit mehreren, z.B. 3 Dimensionen. Die von Mausfeld verwendete Grafik ist eine extreme Vereinfachung, die diesen Raum auf einer Fläche abbildet, die nur 2 Dimensionen hat. Die Veränderung des als Kreisfläche gezeichneten Raumes in der Zeit, stellt eine weitere Dimension dar, aber nicht eine weitere Dimension des jeweiligen Debattenraumes.

Links-Rechts-Eindimensionalität

Nach Mausfelds Auffassung wird der heutige Öffentliche Debattenraum (farbiger Kreis) von den Kräften, die seine Lage und Größe zu bestimmen suchen, sogar auf eine einzige Dimension versimplifiziert: die politische links-rechts-Achse, die er mittels rot-schwarz-Gradienten veranschaulicht.

Da Mausfeld sich selber als Linken sieht, fällt ihm (dem Kognitionswissenschaftler) natürlich primär die Verengung des Debattenraumes auf der linken Seite auf. Die ebenso drastische Verengung auf der rechten Seite würde ihm nur aufgefallen sein, wenn er versucht hätte, rechte Positionen zu vertreten. So zeigt die Grafik aus seinem Buch "Das Schweigen der Lämmer" also den subjektiv von Mausfeld so empfundenen Rechtsruck im Verlaufe der Reduktion. Tatsächlich ist der Debattenraum in Deutschland aber allseitig auf eine Miniatur seiner selbst geschrumpft worden, wie ein Ballon, dem man die Luft abgelassen hat.

Reale Multidimensionalität

Tatsächlich hat ein Öffentlicher Debattenraum natürlich eine unvorstellbar hohe Zahl an Dimensionen, die es zu erhalten und zu vergrößern gilt. Wenn von den Leitmedien eine Sau nach der anderen durch das globale Dorf getrieben wird, bekommt man zwar den Eindruck der seriellen Eindimensionalität, zumal es oft scheinbar nur noch um die Frage geht, ob es eine linke Sau oder eine rechte Sau sei. Aber schon bei der Betrachtung eines einzigen ernst zu nehmenden Themas zeigt sich die doch recht große Anzahl von Dimensionen, sollte man versuchen, das Thema wirklich undogmatisch anzugehen. Am Beispiel der geistigen Entwicklung, dass zugegeben kein triviales ist, lässt sich das veranschaulichen. Da sind, u.a. folgende Dimensionen denkbar und somit diskutierbar:

  • Soll man nur begabtere Individuen fördern, damit diese sich noch weiter entwickeln, was ihren Abstand von der Masse noch mehr vergrößert, aber eventuell besondere Spitzenleistungen zeitigt, oder sollte man die größte Förderleistung auf die Masse derer, die "es nötig haben" verteilen, um eine homogenere Gesellschaft zu erlangen?
  • Sollte man Kinder möglichst früh fördern und fordern, oder ihnen erst einmal ihre unbeschwerte Kindheit lassen?
  • Ist kein fördern und fordern das gleiche wie ein unbeschwerte Kindheit oder das Gegenteil?
  • Welche geistigen Aspekte sind der Förderung eher würdig? Emotionale, soft-skills, intellektuelle, Wissen und Erinnerung, intuitive und spirituelle, körperbezogene wie Reaktionszeit, Ortung, räumliche Vorstellung, Charakterstärke?
  • Soll man überhaupt eingreifen, oder allem seinen natürlichen, gottgewollten Lauf lassen, bzw. ist der maximale Eingriff vielleicht das gottgewollte?
  • Hat die Ernährung keinen Einfluss auf die geistige Entwicklung oder sollte man sie maximal mit Medikamenten pushen?
  • Ist nur das echte geistige Entwicklung, was das Individuum vollbringt, oder liegt die Zukunft in kollektiver Intelligenz.
  • Sollte man mehr auf breit angelegte Allgemeinbildung achten oder Spezialisten ausbilden?
  • Sind musische Fächer verzichtbar und reine Kostenfaktoren oder ist eine höhere Entwicklung durch sie bedingt?
  • Ist es akzeptabel oder gar wünschenswert, vielleicht sogar notwendig, biotechische Erweiterungen in den Menschen einzubauen oder ein Frevel an Gottes Plan?
  • Sind genetische Veränderungen am Menschen ein Tabu, möglich oder notwendig?
  • Wie misst man geistige Kapazität?
  • Wie sinnvoll ist es, das Volk insgesamt geistig zu fördern? Wer holt dann noch den Müll ab?
  • Sollte man sich in Strategien und Zielen der geistigen Entwicklung mit anderen Ländern abstimmen, das in föderaler Selbstbestimmung regeln oder in persönlicher Autonomie?
  • Gibt es ein Zuviel an geistiger Entwicklung, das zu begrenzen wäre?
  • Gibt es eine Untergrenze an geistiger Kapazität, die als "nicht mehr menschlich" zu bewerten wäre?
  • Sollten Menschen unterschiedlicher geistiger Fähigkeiten auch unterschiedliche Rechte haben, z.B. bei Abstimmungen?

Wie man sieht, ist das nicht nur schlicht "1" Thema, sondern ein ausgewachsener Themenkomplex mit nicht absehbarer Komplexität. Etliche dieser Fragen stoßen nicht nur an die Grenzen des derzeitig als zulässig erscheinenden Öffentlichen Debattenraumes, sondern sie stechen ganz deutlich aus dieser Filterblase heraus. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat 1999 in seiner Rede "Regeln für den Menschenpark" darauf hingewiesen, dass Menschen grundsätzlich immer einer Zucht unterlagen und die Frage nach der Klärung dieser Regeln dieser Züchtung aufgeworfen. In abgehobenen Zirkeln ist er dafür kritisiert worden, und in das allgemeine Bewusstsein der Öffentlichkeit ist der Gedanke nicht transportiert worden. D.h. die Züchter zogen es vor, über ihre Ziele und Regeln der Menschenzucht auch in Zukunft nicht öffentlich zu diskutieren. Würdest Du den Öffentlichen Debattenraum um solche Dimensionen erweitern?

Der Mensch im Raum

"Bubble-popping, gelegentlich eine Notwendigkeit" aus Facts of Live

Wer bestimmt, wie der Debattenraum aussieht? Der Intendant des ZDF dewiki:Thomas Bellut hat offensichtlich mehr Einfluss auf die Gestaltung des Öffentlichen Debattenraumes als "der Mann von der Straße". Nun bedeutet "mehr" Einfluss aber nicht 100%. Der Mann von der Straße hat in seiner Straße mehr Einfluss, wenn er das will. Und in seinem Wohnzimmer ist sein Einfluss bestimmend, insbesondere, wenn der Fernseher aus ist oder gar nicht vorhanden. Der Mann von der Straße spricht i.d.R. nicht mit Herrn Bellut, sondern mit anderen Leuten in seiner Familie, seinem Freundeskreis, auf seiner Arbeitsstelle, mit Kunden, Behördenmitarbeitern, Vereinsgenossen, Ärzten, Postboten, Dienstleistern im Handel und Handwerkern. Der private Debattenraum ist zwar extrem segmentiert, aber auch sehr groß und vielfältig. Peter Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang im dritten Band seiner Trilogie "SPHÄREN III - Schäume" auch von einer „Ko-Isolation im Schaum der dicht gestapelten Einheiten“. [1]

Dass dem Einzelnen sein Einfluss gering erscheint, liegt einerseits daran, dass er sich den segmentierteren, privateren Debattenraum mit zig Millionen anderen Privatleuten teilt. Und andererseits liegt es daran, dass diese Segmente eben "privat" sind und jeweils nur von einigen wenigen Individuen eingesehen werden können. Das ist so eine Art natürlicher Demokratie.

Die Hallin-Sphären

Hallin-Sphären: Innen - Konsens / Mitte - legitime Kontroverse - Debattenraum / Außen - Devianz

Die dewiki:Hallin-Sphären, ein von Daniel Clark Hallin 1986 in seinem Buch "The Uncensored War: The Media and Vietnam" beschriebenes Konzept der Veröffentlichten Meinung, erweitern das Konzept des Debattenraumes nach innen und nach außen: Diese drei Sphären (kugelförmiger Raum bzw. Kugelraumabschnitt in Form einer Hülle) bestehen (von innen nach außen) aus drei konzentrischen Bereichen: Dem Konsens, der legitimen Kontroversen (die vergleichbar mit dem Mausfeldschen Debattenraum ist) und der Devianz, wobei der letztere und am weitesten außen liegende Kugelraumabschnitt praktisch nicht mehr Teil der Veröffentlichten Meinung ist.

Hallin schrieb:[2]

  • Sphere of Consensus: „This is the region of 'motherhood and apple pie'; it encompasses those social objects not regarded by the journalists and most of the society as controversial. Within this region journalists do not feel compelled either to prevent opposing views or to remain disinterested observers. On the contrary, the journalist's role is to serve as an advocate or celebrant of consensus values.”
  • Sphere of Deviance: „And beyond the Sphere of Legitimate Controversy lies the Sphere of Deviance, the realm of those political actors and views which journalists and the political mainstream of the society reject as unworthy of being heard. It is, for example, written into the FCC's guidelines for application of the Fairness Doctrine that "it is not the Commissions's intention to make time available to Communist viewpoints". Here neutrality once again falls away and journalism becomes, to borrow a phrase from Talcott Parsons: "a boundary-maintaining mechanism": it plays the role of exposing, condemning, or excluding from the public agenda those who violate or challenge the political consensus.“

Das bewegte Bild rechts soll die Hallin-Sphären veranschaulichen. In der Mitte haben wir den Konsens als wohlgeformte weiße Kugel. Sie steht für die Mitte der Gesellschaft und verändert sich scheinbar nicht, ein Sinnbild der Stabilität. Innerhalb des wabernden Käfigs befindet sich der Debattenraum der 'legitimen' Kontroversen. Hier ist die Veröffentlichte Meinung in Bewegung und versucht partiell in das schwarze "Nichts" vorzustoßen, dass von den Wächtern der Macht regelmäßig als 'deviant' also als abwegig und daher unvernünftig, gefährlich, undemokratisch, indiskutabel, populistisch, unwissenschaftlich, undurchführbar, utopisch, unwirtschaftlich, rassistisch, unmoralisch oder einfach nur unmodern gebrandmarkt wird. Diese vielgeschmähte äußere Sphäre entzieht sich aus mehreren Gründen der Darstellbarkeit. In der Logik des Bildes bleibend handelt es ich bei der devianten Sphäre um alles außerhalb des Debattenraumes, also den ganzen 'Rest' des Universums. Und dafür reicht hier einfach der Platz nicht aus.

Verwandte Konzepte

  • Das Overton-Fenster bzw. Diskurs-Fenster (Overton Window of Political Possibility), nach Joseph Paul Overton, dem Vizepräsidenten des amerikanischen Thinktanks "Mackinac Center for Public Policy", benanntes Konzept aus der Mitte der 1990er Jahre zur Durchsetzung neuer politischer Leitlinien.[3]
  • Die Filterblase, von Amerikaner Eli Pariser in seinem Buch "The Filter Bubble" 2011 beschriebenes Konzept der zum Teil selbst verschuldeten Einschränkung des persönlichen Horizontes, die durch entsprechende Personalisierungsalgorithmen großer Internetdienste stark gefördert wird.
  • Der Meinungskorridor (åsiktskorridor == Ansichtskorridor), von dem schwedischen Politikwissenschaftler Henrik Ekengren Oscarsson 2013 geprägter Begriff, dem der von Regisseurin Stina Oscarson hervorgebrachte Ausdruck Testrede als Gegenmittel zur Seite Steht.

HYPERION: das Overton-Fenster (3:30 min.)

So wie Mausfeld nur von der Einengung des Debattenraumes auf der linken Seite spricht, so sagt Hyperion, dass das Overton-Fenster im politisch rechten Spektrum immer kleiner wird.

Vistâra das Bedürfnis und die GfK

Zu den Eigenschaften, die den Menschen vom Tier unterscheiden, gehört Vistâra, das Bedürfnis sich auszudehnen. Es ist unstillbar. Hauptsächlich ist es ein mentales Bedürfnis. Sein Gegenspieler ist das Dogma, das Verbot über eine definierte Grenze hinaus zu denken.

«Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen, es bleibet dabei: die Gedanken sind frei.»

Wenn Vistâra auf Dogma trifft, ist die Gewalt eine Gewissheit. Die Frage ist nur: „Wer wird ihr Opfer?“

  • Das Individuum: Verlagert das Individuum den Konflikt nach innen, kommt es zu Allergien, Depressionen oder gar Selbstmord.
  • Die Gesellschaft: Wird der Kampf unsachlich ausgetragen, leidet die Gesellschaft (zu Recht, weil sie das Dogma stützt) und das Individuum.
  • Das Dogma: Wird eine sachliche Debatte geführt, wird das Dogma überwunden. Da das Dogma kein Lebewesen ist, ist der Schaden inexistent und die Gesellschaft profitiert von freierem Denken.

Die Voraussetzung für den demokratischen Kampf um die Freiheit ist die Freiheit der Rede. Die Voraussetzung für den Kampf um die Freiheit der Rede ist die Freiheit im eigenen Denken. Und die Voraussetzung für die Befreiung des eigenen Denkens ist die Akzeptanz des eigenen Bedürfnisses nach Vistâra. Die effektivste Methode um Frieden mit sich selbst zu schließen und die eigenen verdrängten Bedürfnisse wieder freizulegen, ist die GfK-Selbstbitte. Andere Wege sind weniger effektiv, weniger nachhaltig und begleitet von mehr emotionaler, struktureller und körperlicher Gewalt.

Nun könnte das selbstbewusste und sich für intelligent haltende Individuum denken: „Was soll das alles? Ich weiß doch genau, dass ich denken kann, was ich will und sagen darf, was ich denke!“. Die Gegenfrage lautet: „Warum gibt es dann immer noch ein Dogma?“. Es sind eben nicht alle Menschen ganz frei im Denken. Manche trauen sich nicht zu handeln; manchen trauen sich nicht zu reden und manche trauen sich nicht zu denken. Wie der Kölner gerne sagt: „Jede Jeck is anders“. Da die Demokratie nix für Einzelkämpfer ist und jede Kette nur so stark wie ihr schwächstes Glied, so gibt es um einen herum immer eine Menge für die Innere Freiheit diverser Jecken zu tun, denn: „Allein machen sie dich ein!“.

Gewaltfreie Erweiterung des Debattenraumes

Die Gewaltfreie Kommunikation ist ein effektives und effizientes Mittel zur Erweiterung des Debattenraumes. Folgende Aspekte spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle:

  • Ungelöste innere Konflikte machen einen wirkungsvollen und konstruktiven Einfluss auf gesellschaftliche Phänomene unmöglich. Wie Mahatma Gandhi schon sagte: Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünscht für diese Welt!. Nachhaltige Veränderungen beginnen immer bei einem selbst. Hier kann die Übung in GfK wertvolle Dienste leisten. Um gezielt etwas für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse unternehmen zu können, muss man sich dieser erst einmal bewusst werden. Die GfK hilft dabei, verdränge Bedürfnisse wieder in ihren natürlichen Stand zu versetzen.
  • Debatten auf der Basis verfestigter Feindbilder sind reine Zeitverschwendung. Die GfK hilft dabei, Feindbilder abzubauen und durch "Freundbilder" zu ersetzen. Dann wird eine Debatte möglich, die nicht nur Kampf und Krampf ist, sondern Austausch und lernen.
  • Die GfK hilft dabei, Gemeinschaften zu schaffen, interpersonelle Reibungen abzubauen und die Gemeinschaft qualitativ zu verbessern und quantitativ zu stärken.
  • Der in GfK geübte Mensch wird nicht länger in die Falle der Rechthaberei tappen, die Debatten blockieren.
  • Durch die Übung in GfK lernt man, sich klarer und instruktiver auszudrücken, was dem Fortschritt in jeder Debatte zugute kommt.
  • Die Fähigkeit des Zuhörens wird geübt. Wer besser zuhört wird auch in seiner Rede ernster genommen.
  • Menschen, die Hemmungen haben, vor Gruppen bzw. öffentlich zu sprechen, können diese Hemmungen mit GfK-Übungen abbauen.
  • Die Neigung Konflikte nach innen zu verlagern wird umgewandelt in die Fähigkeit, diese Konflikte selbstbewusst anzusprechen und deren Lösung gewaltfrei und kooperativ zu verfolgen.
  • Man wird resistent gegen Emotionale Erpressung und ist daher nicht so leicht zum Schweigen zu bringen.

Einzelnachweise

  1. zukunftsinstitut.de: Die Welt ist Schaum Harry Gatterer, August 2016
  2. Google Books The Uncensored War: The Media and Vietnam Seite 166 ff
  3. mackinac.org: A Brief Explanation of the Overton Window 2010